Als ich vor vielen Jahren, irgendwo dieses schmuddelige abgegriffene Paperback Buch fand, las ich es damals in kürzester Zeit durch. Erst später, als ich schmerzliche klassistische Erfahrungen mit Menschen aus der links-feministischen Szene sammelte, begann ich mich eingehender mit Klassismus und der jüngeren Arbeiter*innengeschichte zu beschäftigen. Ich bemerkte wie wichtig Bücher, die das Wirken von Frauen* aus der Arbeiter*innenbewegung dokumentieren für mich sind, da von Klassismus betroffene Frauen* irgendwie unsichtbar sind. Kaum haben wir irgendetwas relevantes getan, verschwinden wir, unser Wirken und unsere Positionen wieder unter der Dominanz der privilegierten aus der Mittelschicht. Diese Erkenntnis ist der Grund, warum ich mich tagelange Recherche machte, um eben jenes kleine schmuddelige Taschenbuch, das ich nicht mehr besaß, erneut aufzutreiben. So kann ich neben meinen Lieblingsbeschäftigungen: Punk hören, Springerstiefel Putzen, „Kunst“ sowie stammtischreif Nörgeln und Jammern, etwas sinnvolles tun. Über das Wirken einer Frau in einer historisch bedeutsamen Bewegung aufklären, um sie nicht vollends in der Bedeutungslosigkeit verschwinden zu lassen.
Das Buch über welches ich hier schreibe, wurde 1979 vom Prometh Verlag herausgegeben und von einer Marianne Ihm vom Us-Englischen ins Deutsche übersetzt. Die Recherche ergibt, dass Informationen über jenen Verlag ebenso schwierig aufzutreiben sind, wie das Buch selbst. Meine Neugier reichte so weit, dass ich die abgedruckte Telefonnummer des Verlages anrufe, dabei bin ich wie viele Menschen in meiner Generation überaus telefonscheu. Es tutet, ein älterer Herr antwortet und meinte aber auf mehrmaligem Nachfragen hin, dass dies ein Privatanschluss sei. Schade, also kann ich keine gesicherten Informationen weder über den Verlag noch über die Herausgeberin finden. Booklooker.de, eine Ebay-Kleinanzeigen ähnliche Plattform für gebrauchte Bücher, liefert ein paar interessante Hinweise. Früher hat der Verlag viele verschiedene Bücher herausgegeben. Romane, Sachbücher, politisches, unpolitisches und unter anderem dieses Buch.
Dieses Buch fasst das Lebenswerk einer Frau auf 163 Seiten zusammen. Diese Biographie schreibt Mother Jones in hohem Alter mithilfe einer Journalistin aus ihrem Gedächtnis heraus auf. Jeder Mensch, welcher viel erlebt hat, kennt das Phänomen, dass sich mit den Jahren, Erinnerungen vermischen oder falsch eingeordnet werden. All das merkt Mensch auch am anekdotenhaften Schreibstil, so springt die Erzählung von Kapitel zu Kapitel, ohne sich um einen Übergang zwischen ihnen zu bemühen und der jeweilige Kontext ergibt sich beim aufmerksamen Lesen. Die kurzweiligen Kapitel sind jeweils in sich eine kleine geschlossene Geschichte. Dennoch, sind diese Erzählungen äußert eindrücklich und detailreich. Beschreibt Mother Jones doch auf den Punkt genau, die Verhältnisse der damaligen Arbeiter*innen in den USA, das Grauen, sowie Menschenrechtsverletzungen denen die Arbeiter*innen damals ausgesetzt waren, sodass auch ich nach über hundert Jahren noch Gänsehaut beim Lesen bekomme.
Hier ist die Tatsache, dass es sich hier um eine Biografie handelt, sehr hilfreich. Wie beiläufig erwähnt sie auch am Rande die Auswirkungen ihrer Arbeit auf ihre Psyche. Heutzutage würde man diese Auswirkungen wohl am ehesten als Helfer*innen-trauma bezeichnen, so schreibt sie nach einem Einsatz gegen Kinderarbeit, dass sie einige Wochen unter Appetitverlust litt und es ihr schien, dass alles, was sie am Körper trug, durch die grauenhafte Ausbeutung, deren Zeugin sie wurde, entstanden sei.
Es ist ein vielschichtiges Auseinandergepflücke von Ebenen, über dieses Buch zu berichten, denn bei einer alten Biographie sind Autor*In, Inhalt und Geschichte eins. Auch spielt der historische und kulturelle Kontext eine nicht unwesentliche Rolle. Möchte ich also das Buch rezensieren, muss ich sie und damit auch dessen Inhalt für mich in den richtigen historischen Zusammenhang setzen und darüber reflektieren, ob Ihre Aussagen für die heutige Zeit mit den heutigen politischen Fragen so noch vertretbar sind und warum das, was sie damals sagte, vielleicht doch seine Richtigkeit hatte.
Das Alter meiner Ausgabe macht beispielsweise durch die beiläufige Verwendung des N-Wortes bemerkbar. Es ist für mich, als weiße Person, eine große Herausforderung, sich dem Wort und seiner Problematik passend anzunähern. Es gibt, zwei Dinge, die ich dabei beachten muss, zuerst die Bedeutung des Wortes zu der damaligen Zeit und dann kann ich in diesem Kontext, Mother Jones Aussagen und Formulierungen versuchen zu deuten und wie sie persönlich zu Rassismus betroffenen Personen stand. Hierzu hat meine Lektor*in folgende Formulierung ergänzt, der ich nichts hinzuzufügen habe. (Danke) Das Wort selbst wurde zunächst in einer neutralen Weise verwendet und erhielt während des atlantischen Sklavenhandels eine gewalttätige und obszöne Konnotation. Das Wort wurde zwar in den USA sowohl als Selbstbezeichnung in der Schwarzen Gemeinschaft, als auch als sprachliche Waffe im Rahmen kolonialer und weißer Vorherrschaftsbestrebungen verwendet. Die Verflechtung des Wortes mit der entmenschlichenden und zutiefst rassistischen Geschichte gegen die Schwarze Gemeinschaft hat die neutrale Bedeutung des Wortes verdrängt, so dass es heute als Tabu und Beleidigung angesehen wird. Allerdings wurde das N-Wort in den letzten Jahrzehnten von der afroamerikanischen Gemeinschaft wieder vereinnahmt (die Endung -er wurde in -a umgewandelt und das Wort wurde als Ausdruck der Zuneigung übernommen) und wird nun nur von denen Mitgliedern verwendet und darf nicht von nicht-afroamerikanischen Menschen benutzt werden.
Unabhängig von dem geschichtlichen Kontext, bin ich der Meinung, dass das Buch bei einer Neuauflage entsprechend redigiert werden muss, sodass das Buch ohne Bauchschmerzen für alle zugänglich ist. Diese Aufgabe würde ich an dieser Stelle den jeweiligen Expert*innen überlassen. Die damalige Arbeiter*Innenbewegung in den USA sollte, trotz ihrer großen Errungenschaften, kritisch betrachtet werden, wenn es um das Thema Rassismus geht, es war damals wie heute eine breite Bewegung mit guten und schlechten Standpunkten. Diese Problematik lässt sich mit dem heutigen Feminismus vergleichen es gibt sowohl konservative Idiotinnen* (Terfs) oder Menschen mit einem radikal gleichberechtigten Ansatz. Bei Mother Jones würde man davon ausgehen, dass, wenn ich ihre Zitate lese und ihre Biographie nach recherchiere, ihr Standpunkt in Ordnung gewesen sein muss. Sie begründete bspw. Die IWW (Industrial Workers of the World) 1905 mit. Diese organisierte nicht nur die gesellschaftlich anerkannten Arbeiter*innen, sondern auch Frauen, ungelernte, Wanderarbeiter*innen, sowie Migrant*innen und Afroamerikaner*innen.
Aus ihren Texten scheint meiner Ansicht nach eine Haltung der Selbstverständlichkeit, herauslesbar zu sein. Das Thema Rassismus beachtet sie in ihrer politischen Arbeit nicht, erwähnt aber hin und wieder die Teilnahme von Rassismus betroffenen Menschen an ihren Versammlungen und kommentiert dies zumindest nicht auf negative Weise. Vielmehr solidarisiert sie sich, bspw. mit revoltierenden Mexikaner*innen.
Politisch würde ich Mother Jones als Reformistin einordnen. Sie grenzt sich in ihrer Arbeit stark von den sozialistischen und anarchistischen Bewegungen dieser Zeit ab, möchte nicht das System abschaffen, sondern verändern. Dies merkt man auch an Aussagen, wie: „Dieser Mensch sei ein echter Amerikaner oder ein richtiger Patriot“. Wirken beim ersten Lesen ihre Aussagen erst einmal merkwürdig, stellt Mensch beim aufmerksamen Lesen fest, dass sie die Wörter mit einer eigenen Bedeutung füllt. So definiert sie für sich jene als echte Patrioten, welche in ihrem Handeln für eine gleichberechtigtere Welt sorgen und ihr scheint es reichlich egal zu sein, wer diese Person ist, dies können Menschen aus Mexiko, Politiker sowie Gewerkschaftsaktivisten sein. Ich finde dies für mich vertretbar und erinnere mich an die interessanten Gespräche, welche ich in den Zeiten führte, in denen ich per Anhalter unterwegs war. Korrekte Leute sprechen nämlich nicht immer eine Sprache, welche in der linken Bubble als richtig angesehen wird.
Auch hatte sie ein schwieriges Verhältnis zum Feminismus jener Zeit, denn sie war gegen Frauenarbeit. Dies war ein politisch etwas zu kurz gefasste Überzeugung mit nachvollziehbaren Gedanken. Die Situation der Arbeiterfrauen, ihrer Kinder und Familien glich erschreckend der Situation heutiger Wanderarbeiter*innen, meist reichte der Lohn des Mannes nämlich nicht aus, um die Familie zu ernähren. Deshalb mussten die betroffenen Frauen arbeiten, da es keine andere Möglichkeit gab. Ihre Arbeitsbedingungen waren aufgrund des schlechteren Lohnes teilweise schlimmer als die der Männer. Die Situation der Kinder war dementsprechend. Entweder waren sie sich selbst überlassen, in schlechten Schulen verwahrt, oder schon in jüngeren Jahren in der Fabrik angestellt, wo sie schwerste körperliche Arbeit verrichten mussten. Auch entstand dadurch eine massive Mehrfachbelastung jener Frauen, die es heute noch gibt. Schwere und belastende Arbeit zu schlechtem Lohn ohne die Möglichkeit, die unbezahlte Sorgearbeit an jemand anderen auszulagern oder an andere Familienmitglieder umzuverteilen. Dagegen glich die Situation der Frauenrechtlerinnen laut Mother Jones, einem goldenen Käfig, sie galten als Statussymbol, das sich der „Mann in der Familie“, eine Frau zu Hause leisten konnte. Sie hatten auch Zugänge zu privilegierter Arbeit, welche einen nicht direkt krank macht. So ist der Gedanke für mich nachvollziehbar und ein schönes historisches Beispiel um die Kluft zwischen Frauen* aus meiner Schicht und die der Mittelschicht aufzuzeigen. Es gibt sicherlich, politisch bessere Positionen, von anderen Aktivist*innen, über die ich ein anderes Mal berichten werde.
Auch wenn ihre Position und Ihre Aussagen in mancher Hinsicht schwierig sind, gehört dieses Buch zu jenen über dessen Besitz ich in meiner Sammlung wirklich stolz bin. Sie war eine wichtige Zeitzeugin und eine beeindruckende Aktivistin.
Für mich sind solche Bücher wichtig, denn historisch die Bedeutung von Klasse verstehen zu können, es hilft mir die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Frauen* aus dem bürgerlichen Milieu und den Leuten aus meiner sozialen Schicht nachzuvollziehen. Denn alles, was wir jetzt sind, ist aus der Geschichte gewachsen. Es ist leicht, sich als Avantgarde zu verstehen und anderen Perspektiven einen Hauch von Rückständigkeit zu verpassen. Besonders dann, wenn die eigene Perspektive eine recht bequeme Selbstverständlichkeit der Lebensrealität darstellt. Dann muss man sich nicht unbedingt mit der Relevanz der anderen Perspektiven beschäftigen. Uns gab es uns schon immer und es wird uns immer geben in der Zange zwischen dem Isolationsgefühl in den linken feministischen Räumen, dem Patriarchat in unserem Zuhause, dem Wunsch nach oben zu flüchten und dabei sozial und beruflich auszubrennen.
Mir hilft es enorm, mich mit Arbeiter*innengeschichte auseinanderzusetzen da es mir hilft meine gesellschaftliche Position als eigene Identität zu greifen, etwas das mir aufgrund mangelnder gesellschaftlicher Präsenz von Leuten wie mir extrem fehlt. Dadurch kann ich auch eine eigene Stimme finden, von welcher ich hoffe, dass sie andere Stimmen nicht übertönt, sondern ergänzt.
I'm a union man in a union war
It's a union world I'm fightin' for
There's a better world that's coming, don't you know