Malwine:
Hallo Lina, In deinem Comic „Melek + ich“ begleiten wir die Wissenschaftlerin Nici auf ihrer Reise in ein Paralleluniversum. Nici hat eine Maschine gebaut, mit der sie mittels eines Körpers, den sie erschaffen hat, in eine andere Dimension reisen kann. Sie überträgt ihr eigenes Bewusstsein in diesen artifiziellen Körper und beginnt ihre Reise. Um zu überprüfen, ob sie wirklich in einer anderen Dimension ist, sucht sie als Erstes sich selbst. Die dimensionsreisende Wissenschaftlerin, die in der anderen Dimension den Namen Melek trägt, findet sich selbst - Nici - in der Bar, in der Nici als Barkeeperin arbeitet. Die beiden beginnen sich zu unterhalten, Melek ist irritiert über die offensichtlichen Unterschiede zwischen ihnen. Die Zwei wirken auf den ersten Blick fast gegensätzlich: Melek ist ehrgeizig, minimalistisch und kontrolliert; Nici ist entspannt und chaotisch.
Die Spannung zwischen ihnen ist groß, Nici beginnt mit Melek zu flirten, sie singen zusammen Karaoke und gehen schließlich zu Nici nach Hause und haben Sex.
Es beginnt eine kurze und intensive Romanze. Sie verbringen viel Zeit miteinander und befinden sich sofort in einem Zustand extremer Nähe. Die Intensität dieses Zustands, der idyllisch beginnt, steigert sich und kippt schließlich in Konflikt und Gewalt. Ich werde nicht die ganze Geschichte spoilern, aber der weitere Verlauf der Handlung ist sehr fesselnd und intensiv.
Habe ich etwas Wichtiges in meiner Zusammenfassung vergessen?
Lina:
Nooo, sehr gute Zusammenfassung.
Malwine:
Während des Entstehungsprozesses von „Melek + ich“ haben wir zusammen studiert und ich war ziemlich nah an deinem Arbeitsprozess dran.
So, wie ich mich erinnere, hattest du plötzlich diese super komplexe und irgendwie seltsame Idee. Ich weiss noch, dass ich ein bisschen schockiert, aber auch total fasziniert war, als du sie mir zum ersten Mal erzählt hast.
Kannst du dich noch erinnern, wie dir die Idee zum Buch gekommen ist?
Lina:
Als Vorbereitung oder Basis für das Buch habe ich eine Fashionreihe gemacht. Während ich an der Kleidung gearbeitet habe, habe ich immer wieder weiter an der Geschichte geschrieben. Mir war irgendwie klar, dass Kleidung als identitätsstiftendes Merkmal eine Rolle spielen sollte.
Als ich angefangen habe, mir die Geschichte auszudenken, ging es erst einmal um zwei Mitbewohnerinnen. Die beiden lieben sich total, aber stoßen auch immer wieder an eine Grenze in ihrer Beziehung, weil sie sich irgendwie ähnlich sind und deswegen die Unterschiede zur anderen Person nicht akzeptieren können. An irgendeinem Punkt ist mir dann klar geworden, dass es eigentlich um Konflikte mit mir selbst geht. Konflikte, die entstehen, weil ich unterschiedliche Ansprüche an mein Leben habe. Einerseits möchte ich nicht so viel (Lohn-)arbeiten, andererseits liebe ich meine Comicarbeit voll. Auch in der Bar zu arbeiten, hat mich auf eine körperliche und social interaction-Art oft sehr glücklich gemacht. Dann hatte ich aber keine Zeit für meine künstlerische Arbeit. Manchmal bin ich emotional voll locker, herzlich, aufgeschlossen und so weiter und manchmal bin ich ein Stein. Dann hab ich mich ein bisschen darauf eingelassen und hatte so Fantasies davon, mit mir selbst Sex zu haben, und dachte so: „Jo, ok, das macht einfach total Sinn“ haha.
Malwine:
In vielen der Rezensionen von „Melek + ich“ wurde das Augenmerk stark auf die queere Geschichte gelegt, die du im Buch zeigst. Es gibt mehrere explizite Sexszenen und die gezeigte Körperlichkeit fühlt sich beim Anschauen deiner Bilder so greifbar und überwältigend an.
Gleichzeit habe ich „Melek + ich“ auch immer als Geschichte über Selbstliebe und Selbsthass gelesen. Denn Nici trifft im Paralleluniversum auf sich selbst, sie beurteilt und analysiert einen Teil von sich, liebt und hasst diesen Teil. Du zeigst diese extreme Spannung und Emotionalität zwischen den beiden Charakteren.
Wie hast du die Rezeption von „Melek + ich“ in der Öffentlichkeit, aber auch in deinem Umfeld wahrgenommen?
Lina:
Es ging in der Presse und in Interviews schon sehr, sehr viel um die Queerness des Buches. Was eigentlich ja nicht schlimm ist. Aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass es den Interviewenden mehr darum ging, dass ich mich als queer oder gar lesbisch label, als dass es wirklich darum geht, was jetzt queer ist. Also, Sex zwischen zwei Frauen kann ja queer sein, aber für mich geht es da mehr um diese, wie du sagst, Selbstauseinandersetzung. Ich hasse mich, ich liebe mich. Und die Geschichte ist auch einfach Fiktion, auch wenn dieses Grundthema eins ist, das mir entspringt. Ich bin keine cis Frau, meine Geschlechtsidentität und auch meine Sexualität ist fluide. Aber in teils sehr kurzen Interviews, oder in Interviews, in denen die Leute sich mit Queerness nicht auskennen, war mir das alles immer ein bisschen viel zu erklären. Außerdem finde ich es schwierig, wenn Leute gedrängt werden, sich öffentlich zu outen, nur weil sie ein nicht der Normgesellschaft entsprechendes Bild abgeben/Buch machen/etc.
In meinem Umfeld habe ich dieses Problem eher nicht so gehabt. Ich glaube, weil ich mich eh in einer Bubble bewege, in der ich mich meist safe fühle und der ich diese Dinge nicht erklären MUSS, konnte es mehr um emotionale Verwicklung, Sci-Fi, Sex, Körperlichkeit und so weiter gehen. Das ist schön. <3
Malwine:
In „Melek + ich“ erleben Nici und Melek intensive Rauschzustände unterschiedlichster Art: Genialität, emotionale Nähe, Sex, Alkoholrausch und Gewalt.
Warum sind Rauschzustände in deinem Comic so präsent?
Lina:
Diese Rauschzustände stehen für mich in einem Gegensatz zu Alltag und Arbeit. Zu der Zeit, als ich das Buch gemacht habe, ging es für mich sooo viel um Arbeit. Entweder ich habe in der Bar gearbeitet oder ich habe gezeichnet. „Freizeit“ war dann oft eher bei der Arbeit auch mal was trinken und Fun haben. Ich habe das damals nicht so doll reflektiert, aber es ist irgendwie dieser Rausch zwischen den immer gleichen Abläufen von Drinks machen und am Schreibtisch sitzen, der mich emotional am Laufen gehalten hat.
Malwine:
Nici erschafft diesen neuen Körper für ihre Dimensionsreise, über den sie sagt: „Ein Werk, welches vor Perfektion und Schönheit nur so strahlt“. Der Stellenwert von körperlicher Schönheit und Perfektion ist in unserer Gesellschaft extrem hoch. Dieses Ideal wird meiner Wahrnehmung nach meistens eher als einengend und schmerzhaft empfunden.
Wieso hast du Melek so einen schönen und perfekten Körper gegeben und wie hast du diese Schönheit und Perfektion in deinen Zeichnungen reflektiert?
Lina:
Mit diesem Satz ist keine Normschönheit gemeint. Nici ist glücklich, weil sie eine extrem crazy wissenschaftliche Arbeit gemacht hat. Der Körper ist ja von der Figur her der gleiche wie ihrer. Bei Haaren und Augen habe ich hell statt dunkel genommen und andersrum. (Weil ich so crappy zeichne ist es ganz gut, wenn sich die Charaktere unähnlich sehen, um sie unterscheiden zu können, haha.)
Der Körper der beiden entspricht im Prinzip mehr oder weniger meinem eigenen. Weiß, relativ groß, bisschen dick, mal diese, mal jene Haare.
Natürlich geht es da auch darum, einen Körper abzubilden, der meinem ähnlich ist. Ich selbst habe beim Aufwachsen kaum Körper wie den meinen in den Medien gesehen, und wenn, dann eher so in Richtung böse alte Frau.
Malwine:
Körper sind in deinen Arbeiten etwas, das variabel ist.
Du benutzt immer wieder das Motiv des Körpertauschs (in deinem Comic „Doggy Style“ tauscht die Protagonistin den Körper mit einem Hund - aber nicht freiwillig).
Nici, die sich diesen schönen und perfekten Körper erschafft, nutzt ihn, um die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden. Du löst teilweise die Grenzen des Körpers auf.
Stehen die Körper deiner Protagonist*innen für dich dabei eher stellvertretend für gedankliche Barrieren, die du transformierst, oder geht es dabei auch um tatsächliche körperliche Transformationen?
Lina:
Um beides ein bisschen. Ich glaube, die tatsächliche körperliche Transformation steht thematisch in beiden Büchern nicht im Vordergrund. Also zumindest nicht so, wie ich sie mir für mich selbst wünschen würde. Aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass ich dieses Thema (damals noch etwas unbewusster) aufgrund meiner Dysphorie als genderqueere Person so selbstverständlich immer wieder in meine Arbeit eingliedere.
Im Konkreten auf die Geschichten bezogen, steht das Körpertauschen aber voll für abstraktere Transformationen. Bzw. schafft es ganz praktisch Möglichkeiten innerhalb der Logik der Geschichte, die bildlich sonst nur schwer dazustellen wären. Und das liebe ich an Fiktion, an Sci-Fi – du kannst Sachen einfach passieren lassen, die sonst nur in so mega konfusen Tagträumen, wirren Gedanken, Sexfantasies möglich sind.
Malwine:
Ohne zu viel verraten zu wollen, würde ich sagen, dass sich Nicis Reise und ihre Begegnung mit ihrem Selbst als eher dramatisch und für sie selbst verstörend entwickelt.
Warum zieht diese geniale Idee so viele negative Folgen nach sich? Denkst du, dass Nici bei ihrer Begegnung mit ihrem Selbst mit Seiten konfrontiert wird, mit denen sie nicht leben kann?
Lina:
Es ging mir in der Geschichte darum, die erhabene, arrogante, selbstgerechte Nici, die alles „richtig“ macht, einen super Job hat, ordentlich und strukturiert ist, scheitern zu lassen. Sie überdenken zu lassen, was jetzt wichtig ist und was nicht. Ihr zu zeigen, dass nicht nur Leute, die so sind wie sie, eine Berechtigung haben, glücklich und erfolgreich zu sein. Und auch darum, mit dieser Vorstellung vom Genie zu brechen. Und ja, genau, ich denke, dass Nici nicht erträgt, wie sie sein könnte.
Malwine:
Danke für das Interview, Lina!
Für 2023 haben Lina und Malwine einen Wandkalender entworfen, der u.a. bei She said gekauft werden kann!