Die fiktionale Welt, in der ich aufgewachsen bin, war eine Welt weißer Männer. Goethe hat mich gelehrt, dass unglückliche Liebe den Willen zu leben auslöschen kann. Mit Kafka habe ich mich in einen Käfer verwandelt. Kästner und Döblin haben mich durch das Berlin der Zwanziger Jahre geführt. Frauen treten in diesen Büchern durchaus auf, sie sind Objekt der Begierde, Mutter oder Schwester, sind mal gut, mal voller Laster, oft verzweifelt und zuweilen schlau. Ob diese Werke hingegen den Bechdel-Test bestehen – zwei Frauen, die namentlich genannt werden, unterhalten sich über etwas anderes als einen Mann –, würde ich bezweifeln.
Für mich war das die Normalität. Ich habe nicht hinterfragt, dass wir in der Schule fast ausschließlich Autoren gelesen haben. Niemand hat das, nicht meine Mitschülerinnen, nicht meine Deutschlehrerin. Am Strand las ich weiter freiwillig Frisch und Hesse, abends im Bett Schlink und Mann. Große Schriftstellerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts – Christa Wolf, Ingeborg Bachmann, Herta Müller, Marlene Haushofer, Irmgard Keun, Jane Austen, Charlotte und Emily Brontë, George Eliot, Toni Morrison, Alice Walker – blieben für mich lange Unbekannte.
Ich habe mich Buch um Buch in Empathie geschult, habe mich in den älteren Gantenbein und den jüngeren Emil Sinclair hineinversetzt und nicht gemerkt, dass ich selbst kaum vorkomme. Ich wurde ja mit gemeint, als das Andere, das female, die Abweichung der Norm, des male. Die männliche Erfahrung galt für beide Geschlechter. Männer sind, so lernte ich unbewusst, das Universale, Frauen das Spezielle. In Buchhandlungen gab es lange Regale für sogenannte Frauenliteratur, Männer aber schreiben einfach Literatur. „Die Annahme ist, dass Männer das Monopol über die universelle menschliche Existenz haben“, fasst die Schriftstellerin Olivia Sudjic zusammen.
Mit heterosexuellen weißen cis Männern sollen sich also alle identifizieren, mit Frauen hingegen nicht. Während meiner Zeit als Buchhändlerin in einer Friedrichshainer Kiezbuchhandlung sagten mir immer wieder Kund*innen: „Ich kann meinem Sohn kein Bilderbuch über ein Mädchen schenken, das wird ihn nicht interessieren“. Noch viel schwieriger wird es für Women of Color. Die amerikanische Journalistin Jia Tolentino erzählt in ihrem Essayband Trick Mirror von einem Abendessen, bei dem sie mit ihren Freundinnen darüber fantasiert, welche fiktionale Person sie sind. Tolentino hatte keine große Wahl: Frauen, die so aussehen wie sie, asiatische Gesichtszüge hatten, kamen in den meisten zeitgenössischen Romanen nur in Nebensätzen vor. „Wenn es Frauen schon nicht erlaubt war, als Sinnbild für die menschliche Existenz zu gelten,“ schreibt sie dazu, „wurde ich noch nicht einmal als Sinnbild für die weibliche Existenz gesehen.“
Die geschriebene Welt ist also viel enger als die tatsächlich gelebte Welt. Die afroamerikanische Lyrikerin und Aktivistin Audre Lorde warnt von den unendlichen Wegen, in denen wir „uns unserer selbst und anderer berauben“. Der weiße Hochschulprofessor, der keine Literatur von schwarzen Frauen unterrichtet, weil sie so anders sind als er, die heterosexuelle Frau, die Literatur von lesbischen Frauen ablehnt oder auch die kinderlose Frau, die keinen Roman über Mutterschaft lesen möchte. Erst wenn wir, so sagt Lorde, Unterschiede, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sexualität begrüßen, eröffne sich uns die volle menschliche Erfahrungswelt: „Unterschiede sollten nicht nur toleriert werden, sondern als ein Fundus von notwendigen Gegensätzen gesehen werden, zwischen denen unsere Kreativität erstrahlen kann.“
Was macht es mit jungen Frauen und POC, wenn sie selten als Protagonist*innen und quasi nie als Schreibende auftreten? Was lernen Kinder und Jugendliche über den Wert ihrer Existenz und ihre Möglichkeiten, die Welt mitzugestalten? Was bedeutet es für Frauen, die fiktionale Welt konstant aus der Perspektive von Männern wahrzunehmen, weil nur Männern künstlerische Relevanz zugesprochen wird?
Die Schriftstellerin Isabelle Lehn erzählt, dass die meisten ihrer weiblichen Studierenden in Schreibworkshops zunächst die Perspektive älterer Männer einnehmen. „Sie versuchen, wie Goethe zu klingen, oder wenigstens wie Martin Walser. Weil sie denken, dass nur das Literatur sein kann. Weil sie gelernt haben, dass Literatur nur dann ernstzunehmend ist, wenn sie aus der Perspektive eines älteren Mannes erzählt.“ Als die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie mit etwa sieben Jahren anfing, selber Geschichten zu schreiben, nahm sie ihre englischen und amerikanischen Kinderbücher als Vorbild: „All meine Charaktere waren weiß und blauäugig. Sie spielten im Schnee. Sie aßen Äpfel. Und sie sprachen viel darüber, wie schön es war, wenn die Sonne herauskam. Nun, ich lebe in Nigeria. Und war nie woanders gewesen. Wir hatten keinen Schnee. Wir aßen Mangos – und sprachen niemals über das Wetter, weil das nicht nötig war.“ Auch Adichie war als Kind überzeugt, dass ihre Realität nicht wichtig genug war, um erzählt zu werden.
Das Monopol weißer Männer über die Sprache im öffentlichen Raum ist in der westlichen Kultur tief verankert. Die britische Historikerin Mary Beard analysiert in ihrem Manifest Frauen und Macht den Einfluss antiker Redekultur auf unsere heutige Welt. So sagt bereits in Homers Odyssee Telemachos zu seiner Mutter Penelope: „Du aber, geh ins Haus und besorg die eigenen Geschäfte, / Spindel und Webstuhl…die Rede ist Sache der Männer, / Aller, vor allem die meine! Denn mein ist die Macht hier im Hause.” Die Antike präge immer noch entscheidend, was wir für gute und was für schlechte Reden halten und wem und welchen Stimmlagen (Spoiler: den tiefen) wir Autorität beim Sprechen zumessen. Stimmen von Frauen wurden schon damals mit Tiergeräuschen gleichgesetzt, auch heute würden öffentlich auftretende Frauen quengeln oder winseln.
Lange Zeit hatten Frauen weder einen Rückzugsort noch Legitimation zum Schreiben. Jane Austen schrieb ihre Romane, die heute zu den wichtigsten Werken der Literaturgeschichte zählen, im Wohnzimmer inmitten ihrer Familie. Außer ihren engen Verwandten sollte niemand wissen, selbst die Dienstbot*innen nicht, dass sie schrieb, deswegen unterbrach sie ihre Tätigkeit ständig. Virginia Woolf fasst diesen Missstand in ihrem berühmten Essay Ein Zimmer für sich allein zusammen: „Es ist notwendig, fünfhundert im Jahr und ein Zimmer mit einem Schloss an der Tür zu haben, wenn Sie Romane oder Gedichte schreiben wollen.“ Heute haben die meisten Autor*innen ein Arbeitszimmer und eigene Mittel. Strukturelle Einschränkungen bestehen aber weiter. Ein Beispiel sind die Stipendien, mit denen sich viele Schriftsteller*innen finanzieren. Diese sind meist ortsgebunden und kinderfrei, was die Teilnahme von Müttern mit Babys oder Schulkindern sehr erschwert.
Natürlich hat sich vieles verbessert. Während in den Neunzigern in einem Spiegel-Artikel noch vom sogenannten Fräuleinwunder gesprochen wurde – huch, Frauen können ja auch Romane schreiben –, ist es heute selbstverständlich, dass Autorinnen große Literaturpreise gewinnen und in den Verlagsprogrammen Spitzenpositionen einnehmen. Und trotzdem, erreicht haben wir sie noch immer nicht, die volle Gleichberechtigung in der Literatur.
Die Studie #frauenzählen der Uni Rostock hat im Jahr 2018 festgestellt, dass nur eines von drei Werken, die in großen Tageszeitungen und im Radio besprochen werden, von Frauen stammen. Und diese Besprechungen glänzen nicht immer durch Objektivität: Der Hashtag #dichterdran hat auf humorvolle Weise problematisiert, wie Autorinnen in der Literaturkritik auf ihr Äußeres reduziert werden. Außerdem wurden in diesem Frühjahr unter dem Hashtag #vorschauenzählen die Verlagsprogramme ausgezählt. Dass die Geschlechterverteilung alles andere als ausgeglichen ist, hat sich bei der über Twitter von Berit Glanz und Nicole Seifert organisierten Zählung gezeigt. „Je höher das Prestige eines literarischen Verlages ist, desto mehr scheint er auf Männer zu setzen“ schreiben die Initiatorinnen im Spiegel. Über alle literarischen Verlage hinweg liegt das Verhältnis bei 60 zu 40 Prozent.
Die kanadische Schriftstellerin Rachel Cusk hält die heutigen Einschränkungen von Schriftstellerinnen vor Allem für internalisiert. „Eine Frau mit einem Zimmer für sich und Geld hat die Freiheit zu schreiben – aber was soll sie schreiben?” Literatur war lange eine männliche Realität. Die Formen, die Themen, die Satzstrukturen des Romans waren alle männlich geprägt. Die Frau der Zukunft, so formulierte es Virginia Woolf, werde ihre eigene Form und ihre eigene Satzstruktur entwickeln, um über IHRE Realität zu schreiben. Diese neuen Werke der Frauen, schreibt Woolf, werden gleich einer Fackel eine riesige unbeleuchtete Kammer, die noch nie jemand betreten hat, ausleuchten. Diese Kammer sei jedoch heute bestenfalls von Mondlicht beschienen, sagt Cusk. Wenn eine Frau ein Buch über Krieg schreibe, werde ihr applaudiert. „Die Schriftstellerin, die sich auf ihre weibliche ‚Realität’ beschränkt, wird dafür umgekehrt oft kritisiert. Es scheint, als habe sie dadurch sowohl ihr Zimmer als auch ihr Geld verschwendet.“
Laut Lina Muzur, der stellvertretenden Verlagsleiterin von Hanser Berlin, gibt es hingegen eine neue Generation von Schriftstellerinnen, die sich von diesen männlich geprägten Bewertungsmaßstäben nicht einschränken lässt. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur sagte sie: „Ich sehe, dass Frauen gerade wie wild schreiben. Sie schreiben über Mutterschaft, über sexuelle Übergriffe, über häusliche Gewalt, über weibliche Sexualität, weibliche Krankheiten [...]. Es ist höchste Zeit, dass Frauen sich freischreiben, dass sie all das niederschreiben, was sie Jahrhunderte lang nicht geschrieben haben, weil es entweder als zu weiblich oder als irrelevant abgetan wurde.“
Natürlich gibt es nicht DIE Frau oder DIE Weiblichkeit, genauso wenig wie es DIE Literatur gibt. Die Schriftstellerin Antje Rávik Strubel schreibt dazu: „Längst sprechen wir von Literaturen und haben gelernt, verschiedenste Formen von Weiblichkeit bis hin zur weiblichen Männlichkeit wahrzunehmen, also Männlichkeit, die sich an biologisch weiblichen Körpern äußert. Längst verstehen wir Geschlecht, wie das meiste in einer Gesellschaft, als Verabredung, als veränderbare Lesarten darüber, wie ein Körper zu einer Form kommt.“ Der Einzug von Frauen in den literarischen Kanon bedeutet für mich keine Rückkehr zu klaren Geschlechtergrenzen, sondern eine Aufweichung eben dieser Grenzen und ein Begrüßen von allem was nicht der (heterosexuellen weißen cis-männlichen) Norm entspricht.
Die fiktionale Welt, in der ich mich bewege, ist mittlerweile zum Glück sehr viel diverser. Mit Mitte Zwanzig hatte ich eine Art Erleuchtung, in Form einer Begegnung mit der fiktionalen Esther Greenwood. Die neunzehnjährige Studentin lebt im Amerika der fünfziger Jahre und hat mit einer Kurzgeschichte ein Praktikum bei einem angesehenen New Yorker Modemagazin gewonnen. Die Wochen in New York bestehen aus Fotoshootings, Modeschauen, Abendessen und Taxifahrten im Kreise einer Gruppe junger Frauen, deren konventionelles Leben sich bereits ankündigt. Esther fühlt, wie sie sich immer weiter von der Situation entfremdet: „Ich hätte vermutlich begeistert sein sollen, wie die meisten anderen Mädchen, aber es gelang mir nicht. Ich war ganz still und leer, so wie sich das Auge eines Wirbelsturms vorkommen muss, dass inmitten von Trubel und Getöse seines Weges zieht.“
Sylvia Plath veröffentlichte Die Glasglocke, ihren einzigen Roman, 1963. Er ist in dieser Zeit verankert, in einer Welt, in der von Frauen erwartet wurde, nach dem Studium eine gute Partie zu machen und für Nachwuchs zu sorgen. Das ist nicht mehr meine Welt und trotzdem hatte es etwas mit mir zu tun. Ich, das heißt eine junge Frau, kam plötzlich vor, und nicht nur das, Ich war die Erzählerin. Mit Esther Greenwood erlebe ich, in Jia Tolentinos Worten, wie „generalisierte Erwartungen weiblicher Konventionalität eine Frau von sich selbst trennen können“. Anders ausgedruckt: Eine Frau zu sein bedeutet, sich in der Fülle von Erwartungen verlieren zu können. Diese Erfahrung war ein Stück weit auch meine Erfahrung.
Die Glasglocke war für mich das Tor zu den Geschichten, die ich so viele Jahre lang verpasst habe. Romane aus der Perspektive von Frauen, POC und LGBTQIA-Autor*innen können uns helfen, die Welt in ihrer Komplexität wahrzunehmen und zu verstehen. Statt des weißen männlichen Kanons braucht es Diversität in der Literatur. Die amerikanische Schriftstellerin Ursula K. Le Guin sagt dazu: „Wir müssen die Welt neu schreiben.“ Ich würde hinzufügen: Wir müssen diese neue Welt auch lesen!
Dieser Text ist ursprünglich im Magazin Das Wetter (Ausgabe 21) erschienen.